Der Christ und das Gesetz

a) Das Gesetz hat als Lebensregel nur eine zeitliche Funktion gehabt

Bis auf Christus

So wenig wie das Gesetz von der Schöpfung an dem Menschen auferlegt worden ist, so wenig hat es bis zum letzten Tag für die Gläubigen Geltung. Die Bibel zeigt deutlich, dass das Gesetz in bestimmter Hinsicht – als auferlegte Verhaltensvorschrift – nur einen zeitlichen Charakter trug.

Auch hier lässt die Schrift sich nicht missverstehen, es sei denn, man will nicht lesen, was dasteht. So steht in Galater 3,19 nicht nur, dass das Gesetz «hinzugefügt wurde», sondern auch, dass dieses galt, «bis der Nachkomme käme, dem die Verheissung gemacht war.»

In diesem Kapitel stellt Paulus das Gesetz vor als ein Gefängnis, oder besser als einen Gefangenenwärter, der die Gläubigen aus jener Zeit «verwahrte, eingeschlossen auf den Glauben hin, der offenbart werden sollte» (Vers 23). Hier ist also deutlich die Rede von einer zeitlichen Funktion.

Auch nennt er das Gesetz in diesem Zusammenhang einen Erzieher (Vers 24). «Also ist das Gesetz unser Erzieher gewesen auf Christus hin, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden»

Oft wird dieser Text so ausgelegt, als wäre das Gesetz auch jetzt noch für jeden Sünder ein Erzieher, der ihn zu Christus bringen will. Wenn das stimmte, dann hätte das Gesetz doch auch nur eine zeitliche Autorität über den Menschen. Sobald jener Mensch nämlich Christus kennen lernt, ist er nicht mehr unter dem Erzieher. Diese Auslegung stimmt jedoch nicht. Der Ausdruck «Erzieher auf Christus hin» ist nicht richtungsbestimmend, sondern zeitbestimmend. Das Gesetz war ein Erzieher bis zur Zeit, wo Christus kam (vgl. Galater 4,1-5). Ebenso wenig ist mit «Glaube» in den Versen:

  • «Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt» (Galater 3,23)
  • «Da aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Erzieher» (Galater 3,25)

der persönliche Glaube gemeint. Es handelt sich in diesen Texten um das Predigen des Glaubens als Weg zur Rechtfertigung, im Gegensatz zur Verkündigung des Gesetzes. Das Gesetz hat also nur eine zeitliche Funktion gehabt, wie ausserdem noch hervorgeht aus Galater 4,5, wo die Rede ist von «denen, die unter Gesetz waren.»

Weggetan

In diesem Zusammenhang müssen auch die zwei Stellen genannt werden, die so deutlich den Wechsel der Haushaltung (heilsgeschichtlicher Zeitabschnitt) erkennen lassen, der am Kreuz eingetreten ist. Ich meine Epheser 2,14 und 15 und Kolosser 2,13 und 14. In der letzten der beiden Stellen wird über das Gesetz gesprochen als über den «Schuldbrief in Satzungen, der gegen uns war». Von diesem Schuldbrief sagt der Apostel, dass Gott ihn weggenommen hat, indem Er ihn an das Kreuz nagelte.

Es geht nicht an, wie einige es tun, unter diesem Schuldbrief nur das zeremonielle Gesetz zu verstehen. Die Vergehungen, worüber Vers 13 spricht, sind nicht bloss Übertretungen von Reinigungsvorschriften und dergleichen, sondern direkte Übertretungen von Gottes heiligem, moralischem Gesetz, dem Gesetz der Zehn Gebote.

Dieses Trennen zwischen dem moralischen und dem zeremoniellen Teil des Gesetzes in Texten, wo es sich um das Gesetz handelt, geht, wie ich noch näher aufzeigen möchte, gegen die Schrift. Auch kann man unter dem «Schuldbrief» nicht bloss die Schuld verstehen, die durch Übertretung des Gebotes verursacht wurde. Es ist ja die Rede vom Schuldbrief, der gegen uns zeugte durch seine Satzungen.

Ganz sicher ist die Schuldfrage mit angesprochen. Die Sache ist jedoch die, dass das Gesetz nur Schuld verursachen kann. Das Dokument ist in Anbetracht seiner unvermeidlichen Folge als ein Schuldbrief anzusehen. Nun, diese Handschrift, die gegen uns war, wurde an das Kreuz genagelt. Das bedeutete das Ende der Haushaltung des Gesetzes.

In Epheser 2,14 wird dies vielleicht noch klarer herausgestellt. Dort wird das Gesetz als «Zwischenwand der Umzäunung» bezeichnet, die abgebrochen wurde. Diese Zwischenwand wird hier nicht gesehen als Trennwand zwischen dem Menschen und Gott, sondern zwischen Juden und Heiden.

Wie wurde diese Mauer denn abgebrochen? Paulus sagt es so:

«Nachdem er in seinem Fleisch die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen, weggetan hatte.» Und aus Vers 16 geht hervor, dass dies am Kreuz geschah. Da wurde also die Zwischenwand zwischen Juden und Heiden entfernt. Die Feindschaft zwischen beiden wurde aufgehoben, und beide wurden «in einem Leib» mit Gott versöhnt, so dass auch die Feindschaft zwischen dem Menschen und Gott weggetan wurde, so dass nun denen, die ferne waren (Heiden), und denen, die nahe standen (Juden), Friede verkündigt wird.

Auch hier sehen wir also, dass das Gesetz als das Israel auferlegte Gebot aufgehoben wurde. Und nirgends lesen wir, dass der bekehrte Jude und der bekehrte Heide irgendwie wieder unter das Gesetz gebracht werden.

Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade

Im Gegenteil, von den Gläubigen sagt Paulus, dass sie nicht unter Gesetz sind. Wir haben das bereits in den Aussagen des Galaterbriefes gesehen.

Wir sind nicht mehr «unter dem Erzieher». Paulus wiederholt das aber nochmals im Brief an die Römer. In Kapitel 6,14 lesen wir:

«Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade.» Diese Aussage ist so eindeutig, dass man erstaunt ist, wie wenig diese Belehrung des Apostels akzeptiert wird. Um sich aus der Affäre zu ziehen, werden dann zwei Beweisführungen vorgebracht, um zu versuchen, die Aussagen dieser und der vorgenannten Stelle zu relativieren.

So sagt man, dass wir nicht mehr unter dem Gesetz stehen, um dadurch gerechtfertigt zu werden, wohl aber, was das praktische Leben betrifft. Das Gesetz sei nach wie vor die uns vorgeschriebene Lebensregel.

Andere bringen vor, dass wir nicht mehr unter dem zeremoniellen Gesetz stehen, wohl aber unter dem moralischen.

Bezüglich der erstgenannten Meinung ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir einer solchen «Verschiebung» der Funktion des Gesetzes nirgends in der Schrift begegnen. Nie wird gesagt, dass wir nicht mehr «so» unter dem Gesetz stehen, wohl aber noch «so». Es heisst einfach: Ihr seid nicht mehr unter Gesetz, nicht mehr unter dem Erzieher. Aber nicht nur das, wir müssen auch beachten, dass Paulus in Römer 6,14 nicht über unsere Rechtfertigung spricht, sondern gerade über unser praktisches Leben.

Wäre die fragliche Auffassung richtig, hätte Paulus Folgendes sagen müssen: «Ihr seid nicht unter dem Fluch, denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, um dadurch gerechtfertigt zu werden. Bedenkt jedoch, dass die Sünde nicht über euch herrscht, denn ihr seid wohl unter dem Gesetz als verpflichtende Lebensregel.»

So spricht der Apostel jedoch nicht. Er spricht nicht über Fluch oder über Rechtfertigung, sondern über die Tatsache, dass die Sünde nicht über uns herrschen wird, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind. Und dieser Text ist nur verständlich, wenn wir uns vor Augen halten, was nach Paulus die Wirkung des Gesetzes ist. Er sagt dazu in Römer 5,20 dieses:

«Das Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde.»

Gerade weil wir nicht unter Gesetz stehen, brauchen wir nicht unter der Herrschaft der Sünde gebückt zu gehen.

Und sollte jemand meinen, dieses Freisein vom Gesetz sei ein Freibrief zu sündigen, dann geht Paulus nicht dagegen an, indem er sagt, dass «nicht unter dem Gesetz zu stehen» sich nur auf die Rechtfertigung bezöge.

«Was nun, sollten wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind? Das sei ferne! Wisst ihr nicht, dass, wem ihr euch darstellt als Sklaven zum Gehorsam, ihr dessen Sklaven seid, dem ihr gehorcht?» (Römer 6,15.16). Paulus schreibt nicht: «Wisst ihr nicht, dass das Gesetz eure Lebensregel ist», sondern: «Wisst ihr nicht, dass, wem ihr euch darstellt zum Gehorsam …»

Anders gesagt: Der Apostel spricht über unseren praktischen Wandel, und darin hat das Gesetz keinen Platz. Es ist nicht das unter dem Gesetz sein, das uns befähigt, nicht unter der Herrschaft der Sünde zu stehen. Missbraucht jemand diese Freiheit, dann kommt er wohl unter die Herrschaft der Sünde.

Die Behauptung, dass wir nicht mehr unter Gesetz sind, um dadurch gerechtfertigt zu werden, wohl aber als Lebensregel für die Praxis, ist also gänzlich unbegründet.

Und wer dem Christen das Gesetz auferlegt, um ihn dadurch vom Sündigen abzuhalten, verstösst eindeutig gegen das, was Paulus hier sagt. Der Apostel behauptet ja, dass die Sünde nicht über uns herrschen wird, weil wir nicht mehr unter Gesetz sind.

b) Das Gesetz hat keine Gewalt über gestorbene Menschen

Dem Gesetz gestorben

Es ist sehr wichtig zu bedenken, wie nach der Schrift die Autorität des Gesetzes über die Gläubigen aufgehoben wurde. Damit ist das Problem eigentlich schon gelöst. Paulus schreibt an die Galater:

«Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat» (Galater 2,19.20).

Paulus ist also dem Gesetz «gestorben». Ich las einmal von einem Religionslehrer, der am Sonntag reiste und deswegen von seinen Brüdern getadelt wurde. Er verteidigte sich, indem er sagte, dass das Gesetz eine «Leiche» sei. Obwohl der Mann es wahrscheinlich richtig meinte, stimmte seine Aussage doch nicht. Nicht das Gesetz ist gestorben, sondern wir als Gläubige sind es. Und über gestorbene Menschen hat kein einziges Gesetz mehr Gewalt, auch das Gesetz Gottes nicht. Nicht mehr als Regel zur Rechtfertigung und nicht mehr als Lebensregel. Diese beiden Aspekte des Gesetzes sind nämlich nie zu trennen. In Galater 2,19 und 20 ist ja nicht nur von unserer Stellung in Christus, sondern auch von unserer Lebenspraxis die Rede.

Damit wir Gott Frucht brächten

In Römer 7 wird der Gedanke des Gestorbenseins noch näher ausgeführt. In Vers 1 wird erklärt, dass das Gesetz (egal welches) nur über einen Menschen etwas zu sagen hat, solange dieser lebt. Paulus illustriert das an dem Beispiel einer Frau, die an ihren Mann gebunden ist, solange er lebt. Stirbt der Mann jedoch, so ist sie frei vom Gesetz, das sie an den Mann band. Dann wendet er dies wie folgt auf die Gläubigen an:

«Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten» (Vers 4).

Zwei Dinge fallen hierbei auf. Erstens, dass der Apostel bei dieser Anwendung die Dinge bewusst umkehrt. Er sagt nicht, dass das Gesetz gestorben ist, so dass wir frei sind, um Christus zu gehören, sondern dass wir dem Gesetz getötet worden sind durch den Leib des Christus. (Letzteres beinhaltet, dass wir mit Christus gestorben sind; siehe Galater 2,19 und Kolosser 3,3.)

Zweitens stellen wir fest, dass Paulus den Ausdruck «dem Gesetz gestorben» mit dem praktischen Leben verbindet, nämlich um Gott Frucht zu bringen. Unter dem Gesetz ist das ja nicht möglich, denn dann wirken die Leidenschaften der Sünde, die durch das Gesetz geweckt werden, in unseren Gliedern (Römer 7,5).

Dann unterstreicht der Apostel seine Beweisführung noch einmal mit der Aussage:

«Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in dem wir festgehalten wurden, so dass wir in dem Neuen des Geistes dienen und nicht in dem Alten des Buchstabens.»

Auch hier sehen wir wieder, dass es sich um das praktische Leben handelt. Die Verbindung mit dem Gesetz ist durch den «Tod» endgültig gelöst. Wir dienen Gott auf einer ganz anderen Basis. (Bezüglich des Begriffs «Buchstabe» vergleiche 2. Korinther 3,6.7, wo die in Steine gegrabenen Buchstaben nicht bildlich gemeint sind, sondern sich eindeutig auf die Gesetzestafeln beziehen.)

Um im Stil von Römer 7,1-6 zu bleiben, können wir also auch sagen, dass der Christ, der das Gesetz als Lebensregel gebraucht, jemandem gleicht, der zum zweiten Mal verheiratet ist, der sich aber in seiner zweiten Ehe nach seinem ersten Lebenspartner richtet.

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